Albert Ploeger Kunstmeditaties

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Die Zeit drängt. Pit Morells hoffnungsvoller Ausblick in Wort und Bild

einst als ich auf dem friedhof
sandburgen baute
dort wo heute meine mutter liegt
im erdreich an der strasse
nach frankenhausen
damals sprach ich schon mit dir
mein mond im silberastwerk
uebers ende im chaos
und du hast mir vertraulich
die hoffnungsharfe aus grabgittern
gestrichen

…dichtete Pit Morell in 1967, achtundzwanzig Jahre alt.1 Das war inmitten des kalten Krieges und die Sehnsucht nach einer besseren Welt musste noch erfüllt werden, aber der Mond hatte ihm die hoffnungsharfe gezeigt und die Hoffnung auf ein gutes Leben als Künstler zeichnete sich schon ab. Als Dichter und Maler. Er verstand es, wie wir sehen werden, Wort und Bild zusammenzuhalten.

Mir scheint, daß Morell mit seinem – später gemalten – Ingresblock gut vorgestellt wird.

Morell, Ingresblock
Morell, Ingresblock

Wie’s anfing

1964, das Jahr worin seine Familie aus Bremen umsiedelte ins Künstlerdorf Worpswede, machte er eine besondere Entdeckung. Er besuchte, noch von Bremen aus, in Berlin den eigenartigen Künstler Friedrich Schröder-Sonnenstern, der zur Zeit – noch – ein hochgefeierter surrealistischer Maler war. Der Tag als er hinzog, schreibt er, wurde er am frühen Morgen geweckt von seinem Musikkasten. “Vogelgeister saßen mit Tautropfen auf dem Gefieder im Astwerk…” Er muss aufstehen. “Zwischen ungewaschenem Geschirr und roten Inletts habe ich geschlafen. Du kennst das. Ein fünfundzwanzigjähriger ist krank und müde von Kriegsverwirrungen…“2

Aber jetzt geht er nach einem anderen Land, eigentlich nach zwei, um nach Berlin/Kreuzberg zu kommen. Jean Pierre Morell war damals noch ein armer Kerl, und mit dem wenigen Geld, das er in der Tasche hat, muss er sich in Berlin anwärmen mit Korn. Nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hat ging er in der Kälte auf den Weg. “Hab’ gar keinen Mantel. Der ist an die Kinder verschenkt. Damit sie wenigstens nicht frieren.” Berlin ist die Stadt mit der Mauer und elendvollen Kontrollen. Die Uniformen kommen ihm bekannt vor. “Jetzt weiß ich, woran sie mich erinnern: die Männer, die meiner Mutter damals das Fahrrad geklaut haben mit entsicherterm Revolver, die sahen so aus… Achtung, unsre Hosen sind in Gefahr, von Hunden zerrissen zu werden.”

“Im Abendregen zog ich durch Straßen in Richtung Westen. Ich suchte den Wind, der mich von den Banden der Welt davontragen würde, meditierte über Gerippen. In den Jahren nach ’45 stand ich vor Totenköpfen auf dem Friedhof, und im Sand der heimlichen Sandgrube… fand ich Knochen… ich hörte sie wirklich in der allumfassenden Stimme des Schlafes sagen: Es ist alles gleich.”3

Na gut, Pit kommt mal an bei Friedrich, der ein echter Sonnenstern ist, der Name den er anfügte an seinen eigenen Namen, Schröder. Zusammen mit Kurt Mühlenhaupt, der Schröder schon länger kannte. Bei höllischer Musik schreien sie einander Worte zu; sein Putzmädchen bringt Bier und Zigaretten. “Mir schreit er Ratschläge entgegen, schreibt mir eine Widmung unter ein Bild und rät mir, mich als Religionsphilosoph auszugeben, beim Abschied bejaht er meinen Ausspruch: ‘Bald werden wir beide nichts sein als nichts. Nicht ein Stahlsplitter im Maul und auch keine Birkenrinde, sondern nur Staub und Asche. Eine Lichtintensität’ ”. Schröder, der sein ganzes Leben Perioden kannte von großen geistigen Zusammenbrüchen, war in diesem Moment schon über 73 Jahre alt. Wenig später begann er seine Arbeit zu überlassen an seine Assistenten, die aber seine Werke imitierten und fälschlich teuer verkauften unter seinem Namen. Dies führte zu Skandalen, sein Ruhm verschwand und er wurde berüchtigt.

Für Morell wurde er ein Wegweiser, namentlich in Bezug auf dem Gebrauch von Farben und Farbstiften. Aber wichtiger wurden ihm Oelze, Meckseper und Janssen.4 Er entwickelte sich zu, wie er es selber nennt, einem Vertreter des “Phantastischen Realismus/Surrealismus”. Für seine Arbeit gebraucht er Träume und Erinnerungen aus seine Vergangenheit. Jetzt würden wir sagen: er musste seine Kriegstraumata und den Tod seiner Mutter, gleich nach dem Kriege, verarbeiten. Geboren 1939, erlebte er als Kind die totale Vernichtung von Kassel und die Flucht in den sicheren Reinhardswald, nach Gottsbüren, letzlich nach Hümme. Sang er eine fröhliche Weise wenn er als neunjähriger die hohen Restmauern von der Martinskirche und eine echte Straßenbahn sah? Kassel!

Oder fielen ihm 1948, sogar schon als Kind, vor allem die traurige Trümmerhaufen von dieser Großstadt ins Auge? Später dichtete er, daß sie als Kinder “Häuschen bauten / kleine Häuser / die wir anzündeten, verbrannten / bis auf die Grundmauern / das war der Krieg, die Zerstörung / die wir so früh kennenlernten / in unserem Leben / wir hatten die verkohlten Toten gesehen / im Feuersturm der Stadt…”

Morell, Kassel in Truemmer Morell, Stele in Huemme
Jean Pierre Morell und Kassel in Trümer (1948) Pit Morell, Stele in Hümme (2005)

Mit seiner Stele gewann er ein Preisausschreiben für ein Monument in Hümme. Integriert im oberen 2. Quartal der 30 Zentimeter breiten und 150 Zentimeter hohen Stahlplatte (zwei Zentimeter dick) ist ein etwa 30 Millionen Jahre alter Biotit-Gneis (Stein) in Herzform. Der Stein stammt aus dem Kampener Kliff auf der Insel Sylt und wurde von Pit Morell am Fuß des Kliffs gefunden und für die Stele ausgewählt.

Jean Pierre teilte die Gefühle der Malaise in seinem Lande und schämte sich tief als Deutscher wegen der Missetaten der Nazis. Seine frühe Gedichte zeugen von Hoffnung und Verzweiflung, wie in der hoffnungsharfe.

Morell verwertete sein Trauma in Gedichten und stellte es dar in seiner grafischen und pictoralen Arbeit. Er hat mehrere Kunstpreisen empfangen und wurde 1972 algemeiner bekannt wegen einem Künstlerporträt im ZDF. Wieder fünf Jahre später war er Teilnehmer an der prestigiösen Documenta, Nr 6, in Kassel. Er hatte zahllose Einzelausstellungen in seinem einzigartigen Stil. Seine Gemälde, Zeichnungen und Radierungen zaubern eine neue Welt hervor, voller bizarrer Ereignisse ausgeführt von fremden Traumfiguren. Öfters sehen sie teilweise aus wie Mitglieder oder Bekannte seiner Familie. Die meisten aus dem Reinhardswald, zwischen Weser und Diemel.

Die Deutsche Märchenstrasse läuft quer durch diesen Wald. Dort ist Pit aufgewachsen an der genau so romantischen Deutschen Fachwerkstrasse, in Hümme, seinem “Humi”. Kein Wunder, daß er hier geträumt hat. Die Gebrüder Grimm hatten während ihrem langen Aufenthalt in Kassel Märchen gesammelt aus dieser Gegend. Graf Reinhard hatte seinen großen Wald an den Bischof verhökert, aber liess eh er abzog noch überall Eichen pflanzen, und diese waren mittlerweile so groß gewachsen wie furchterregenden Riesen, Trendula, Saba und Brama und ihr Riesenvater Kruko. Pit Morell hat sie sicher gesehen im dunklen Wald. Enorme Eichen, die kein Holzfäller bewältigen konnte; man könnte sie nur kaputt denken. Stoff zum träumen! Also gleich nützlich wie Zimmerholz.

Chuang-Tse, schrieb John Cage, erzählte mal über einen Baum wovon das holz so knorrig war und die Blätter so bitter, daß kein Mensch jemals versucht hat den Baum zu fällen. Weil er nutzlos war wuchs er so groß und riesenhoch, daß vierzig Gespanne Pferde sich unterstellen konnten in ihre Schatten. Jeder weiß, daß das Nützliche von Nutzen ist, aber fast keiner, daß auch das Nutzlose von Nutzen ist. Das sagte Chuang-Tse, und Cage unterschrieb es.5 Mir scheint, daß sich diese Zen’sche Lebensphilosophie derjenigen von Pit Morell ähnelt.6

Worpswede und Morells Counter Culture

Andere Personen aus Pits phantastischen Darstellungen sind, vor allem, Rosmarie, die Kinder und Leute ausWorpswede, wo er, wie er selber sagt, “versteckt” wohnt. Ab 1970 geht er öfters mit seiner Familie zur Watteninsel Sylt. Schon mehr als dreißig Jahre verbringen sie den ganzen Sommer in Kampen, das für ihn genauso gut ‘Humi-land’ wird. Mittlerweile hat er mehrere Reisen durch Europa gemacht und später reiste er auch nach Alaska und Japan. Ein Bild das sprechend diese Verbreiterung von Humi zeigt ist eine Arbeit von 2005, Arbeit in Humi, Arbeit an meinem Humi, Humi ist überall, Humi ist Heimat, Humi ist global.7

Morell, Humi
Morell, Arbeit in Humi, Arbeit an meinem Humi, Humi ist überall, Humi ist Heimat, Humi ist global (2005)

Kennzeichnend für die Mentalität Morells ist die Notiz zu einer schönen Zeichnung Der Leuchtturm in seinem Buch über Kampen auf Sylt. “Nie darf er seinen Rhythmus ändern. In gleichmäßigen Abständen strahlt er seine Kennung aus. Ein zur Regelmäßigkeit Verdammter, ganz wie wir Menschen”.

Aber gleichwohl in Freiheit. Öfters läuft Pit am Strand. “Mit der Flut kommen die Möwen. Ihr Geschrei beruhigt die Nerven. Wie auch die Sprache von Wasser und Wellen. Zu Hause sind nur brausende Bäume eine Art Ersatz.8 In Kampen stehen auch zwei prächtige Skizzen von Rosmarie, seiner schönen Frau. Er jubelt über sie, seine Zuflucht, im Buch Worpswede.9

Wörter und Bilder gehören in allen seinen Werken zusammen, auch wenn man staunt über den Unterschied zwischen seinen klassischen Skizzen und seinen Phantasiearbeiten. 1968, Pit war damals 29 Jahre alt, hat er ein Gespräch mit der Deutsch-Amerikanischen Künstlerin Lil Picard, inzwischen eine ältere Madam, aber besessen von der meist modernen Kunst, wie der Performance. Zuerst empfand sie, sie sagte es offen, seine Arbeit ”etwas mittelalterlich, heute nicht mehr verständlich so etwas zu machen”. Aber nachdem sie zwei Tagen durch den Worpsweder Sand gestapft war, verstand sie ihn viel besser und machte Pit ein schönes Kompliment: “Wissen Sie, jetzt verstehe ich Sie: Sie leben hier schon längst im Underground!”10 Ich vermute, daß sie Pits Werke inzwischen vergleichen konnte mit den Arbeiten von anderen Dorfmalern, und dachte, daß er sich wehrte gegen traditionellere Kollegen. So gesehen hat seine Arbeit die gleiche Underground-allure wie die von den hippen Figuren in New York und Paris, die kontrastierte mit dem Werk der alten Garde in diesen Kunstmetropolen. Sie gehörte in den VS zu dieser Counter Culture und war befreundet mit Neutönern wie Andy Warhol und Roy Lichtenstein.

Es ist interessant sich Morells Arbeiten zu nähern aus dieser Perspective. Morell als “Undergroundmahler”, gegenüber der normalen Dorfkultur. Er machte total andere Sachen als seine Mit-Dorfmaler, aber war selber auch ein Mensch von Dorf und Insel und deshalb, wie er selber sagte, ein “zur Regelmäßigkeit Verdammter”. Diese Natur hat er von Hause aus mitgenommen, aus Hümme.

Dada, Surrealismus und Morells Phantastischer Realismus/Surrealismus

Aus dem Reinhardswald! Es machte ihn zum Schöpfer von neuen Märchen, einen surrealistischen Phantast. Vielleicht in seiner Jugend eher ein wiedergeborener Dadaïst. Fast ein Jahrhundert her wurde in Zürich, damals Flüchtlinginsel in einer Welt die in Flammen stand, das Kabarett Voltaire gegründet. “26 Februar… gala night / simultaneous poem 3 languages, protest noise Negro Music… invention dialogue!! DADA! Latest novelty!!!” Usw.

Man erkennt hierin den jungen Morell, auch ein Aussenseiter, der, wie er selbst schreibt: “Am Tag meiner Geburt war ich schon ein Aussteiger”.11

Breton wird der große Mann; er sagt: “Dada ist eine Geisteshaltung”.12 Dadaist Picabia zeichnete in New York exakt eine Zündkerze und gab es als Titel Porträt einer jungen Amerikanische Frau in nacktem Zustand; Duchamp schickte –vergebens – sein Pissoir zur Weltausstellung in Paris. Als ich aber seine surrealistische Arbeit La marieé mise à nu par ses célibataires, même,13 im Philadelphia Museum of Art sah, war ich sehr beeindruckt. Dada brachte Chaos in die Kunst, und ging chaotisch zugrunde; der Surrealismus wurde nach dem ersten Weltkriege gebaut auf den Trümmer von Dada. Wie Morells Kunst auf den Trümmern des zweiten… Im ersten surrealistischen Manifest schrieb Breton über Befreiung von einer beklemmenden Moral und einem banalen Leben. Ihr Optimismus war übertrieben groß.14 Mit recht nannte man später derartige Manifeste ein Patchwork of ideas. Siehe zum Vergleich Arbeiten von Arp, Ernst, Miro, Magritte, Dali, Kahlo en Carrington.

Agar, Anarchistischer Engel Arp, Kopf
Eileen Agar, Anarchistischer Engel (1936) Arp, Kopf (1926)

Nehmen wir z.B. Eileen Agars Anarchistischer Engel (1936) und Arps Kopf (1926). Eigentlich ist nur ein Ausgangspunkt gleich: Das Auge besteht in wildem Zustand, vereinigt alle Farben und übersteigt das Wirkliche; der Reichtum des Unbewußten wird freigelegt mittels Traum und Verschiebung der rationellen Kontrolle. Es entstehen sonderbare Gedichte und Bilder.

Auch die Aussage Dalis, daß der einzige Unterschied zwischen ihm und einem Verrückten war, daß er nicht verrückt sei, stimmt für viele Surrealisten. Er erkannte seine Paranoia, und mehr als paranoïd war der schon beschriebene Schröder-Sonnenstern. Wahrscheinlich gilt der Tick für die meisten Künstler, alle Aussenseiter… Vergleiche Dalis Das düstere Spiel (1929) und sein Hallucinogene torero (1970).

Dali, das Düstere Spiel Dali, Hallucinogene torero
Dali, Das düstere Spiel (1929) Dali, Hallucinogene torero (1970)

Damit sind wir wieder ein Bißchen in die Nähe von unserem Pit Morell gekommen, z.B. wenn wir gucken nach seinem Siebenmeilenstiefel

Morell, Humi
Morell, Siebenmeilenstiefel

Oder nach dem schon oben gezeigten Ingresblock. Fasziniert wurde ich von einigen Werken in der Katalog der Austellung im Kunstverein Oldenburg,15 und zwar Die Angst ist erlaubt und Die Zeit drängt. Was hat Morell hier dargestellt und warum gab er diese Titel? Abschliessend werde ich diese zwei Werke besprechen in der Weise die mir eigen ist und die, als Prinzip von Wahrnehmen, passen wird bei Morells eigener Einstellung, sehen was da ist (realistisch) und dann das Wahrgenommene aus innerlichem Erleben verarbeiten. Die Art und Weise wie Morell das selber tut, ist ganz gut beschrieben durch Peter Springer, der Mann hinter der Oldenburger Ausstellung.16 Diese Arbeit brauche ich nicht wiederholen, ich probiere nur mein eigenes instake aus.

Die Angst ist erlaubt

Schon der Titel zieht mich an. Ich kenne ja viele Menschen die über ihre Ängste reden, aber selber kenne ich kaum so etwas, auch nicht in Erinnerung. Klar, ich habe ein vages unangenehmes Gefühl wenn ein Flugzeugchen vorüberzieht das mich erinnert an die englischen Jäger die hinter unserem Haus auf Züge schossen. Heulende Sirenen hatten uns aufgeweckt und bald saßen wir unter der Treppe; mein Vater war immer ganz außer sich. Er hatte greuelhafte Gefechte überlebt als im Mai 1940 Deutsche Paras massiv landeten inmitten seiner Einheit. Seine Angst war erlaubt, aber selber fühlte ich es weniger. Weiterhin habe ich zuweilen Angst vor Hunden; bin auf der Leiter nicht immer schwindelfrei und beim öffentlichen Sprechen hatte ich manchmal ein Bißchen Lampenfieber. Aber existentielle Angst? Kenne ich nicht, wenn Freud nicht zählt…

Morel, Angst ist erlaubt
Pit Morell, Die Angst ist erlaubt, 1969, Farbradierung; 49,8×27 cm.

Meine Lebensverhältnisse waren vielleicht gut, oder meine natürliche Einstellung. Ich habe niemals Angst vor dem Tod gehabt, auch nicht als ich Krebs hatte. Ich glaube, für mich gehört der Tod zum Leben; früher oder später muss man sterben. Der Titel von Morells Radierung suggeriert, daß hier Angst sichtbar sei. Es gibt eine Person – links in der Mitte, lassen wir ihn Rainer heissen – die große Angst ausstrahlt, wie wir sie kennen von Kriegsphotos und von Werken von Edvard Munch. Auch die Person darunter, die Maria heißt, scheint erschüttert, und der Hase der angegriffen wird von einem Hund, zeigt sich außer sich vor Furcht. Ist der Rainer erschrocken wegen seiner Geliebten, wenn er, gerade zurück von einer langen Seereise, sieht daß sie in Umständen ist, die man manchmal gesegnet nennt, oder hat er andere Gefühle? Diese schwangere Frau, Lisa, wehrt etwas ab, das versteht sich, sie schützt ihre Frucht. Und die Frau links unten, ist sie behindert, sitzt sie in einem Rollstuhl? Was trägt die zentral stehende Frau, einen Stab der für ein Püppchen (ihr Kind?) fungiert als Rutschbahn? Was schwebt da über ihrem Kopf und nach wer, wem oder was sieht sie hoch? Vielleicht nach einer Konkurrentin in der Liebe?

Die Bedeutung von den (spazierenden?) Leuten rechts oben kann ich nicht verstehen; auch die Figur rechts unten sagt mir nichts. Bleibt noch übrig ein Mann links in der Mitte, der grinsend guckt nach sieben kleinen Gegenständen, wonach auch Lisa zu weisen scheint. Glühbirnen? Aber werden Menschen von solchen Sachen erschreckt? Ja, wenn es kleine Atombomben sind. Dann wäre es ganz anders.

Alles zusammen ist es eine bunte Gesellschaft die wenig auf einander bezogen ist, mit Ausnahme von Rainer und Lisa. Hat jeder seine eigenen Probleme, Sorgen, Ängste? Freilich sind die erlaubt.

Die Zeit drängt

Die Zeit drängt! Der Jüdische Philosoph Walter Benjamin, geflohen nach Frankreich 1933, und viele Andere würden sagen: sicher, es ist nun die Stunde der Wahrheit; Benjamin nennte es der kairos, die messianische Stillstellung der Zeit. Vergangenheit gewinnt wieder Aktualität. Jetzt sollte man sich erinnern an die Vergangenheit. Ohne Gedenken wird nur Schlechtes geschehen.17

Die Zeit drängt. Aber was genau musste geschehen und geschah es auch wirklich? Eine heikle Frage. Das Bild Morells wird von einer Frau, vielleicht Pits Rosmarie, dominiert; sie sieht streng aus und auf dem Boden liegt der Radierer selbst, er schreit laut: “Menschen, hört mal zu!” Etwa acht Menschen, Wesen bepackt mit Tieren, kommen auf das Geschrei zugelaufen. Weiter weg, noch nicht sichtbar, stehen noch viel mehr Leute, denn wer so laut den großen Moment ankündigt, muss doch wohl eine existentielle Botschaft haben. Ich bin selber dabei, und denke sofort an den Helden von Nietzsche, in seinem Also sprach Zarathustra. Hat Rosmarie Angst, daß ihr Pit ehe er an der Reihe ist schreien soll: Gott ist tot!? “Maul zu”, flüstert sie, “es sind fromme Worpsweder Leute dabei, die werden sich deine Aussagen nicht bieten lassen.” “Was nicht?”, sagt der Pit, beklemmt in seiner bedrängten Lage. “Du wolltest doch sagen Gott ist tot!”

Morel, Angst ist erlaubt
Pit Morell, Die Zeit drängt, 1971, ets, aquatinta; 49,5× 32 cm

“Das sage ich nur zu Hause, aber nicht mit diesem frommen Volk. Und er ruft, so laut wie er kann: “Volk von Worpswede, die Zeit drängt! Die Schöpfung (dieses Wort wird ansprechen)… die Welt geht futsch!” Die Leute gähnen ihn unbeweglich an. Deutschland vergeht…” Die Menschen zucken mit ihren Achseln, einer ruft: Freiburg? München? Eine Gans sagt gack, gack. “Schleswig-Holstein läuft Gefahr!” Wieso denn?, staunt ein Anderer. “Worpswede geht zugrunde!” Plötzlich kommt die ganze Menge auf sie zu und stellt sich drohend vor Rosmarie und Pit, einige stoßen sie sogar an, alle rufen wie aus einem Munde: “Wieso denn?”

Jetzt ergreift die Rosmarie, groß und stark, das Wort. “Menschen!”, fängt sie an. Alle weichen zurück. “Menschen“, wiederholt sie, “die Zeit drängt. Es ist nicht mehr 1945. Es ist 1971. Worpswede wird zugrunde gehen wenn wir nicht aufhören immer mehr Wohlstand zu wünschen, wenn wir unser Glück verhökern weil wir immer mehr Reichtum wünschen und darum weniger Natur behalten, wenn wir unsere Sicherheit bauen wollen auf Atombomben und nicht auf … “

Pit sieht seine Frau mit Bewunderung an, staunt über ihre schönen Worte die sagen was er auf seine Weise auch denkt, das der Weg mit dem Gott der frommen Gebete sich totläuft, aber beide sehen sie, wie ganz Worpswede wegläuft mit seinem Viehbestand. Sie kichern über die Künstler mit ihren Firlefanzereien, sehen sich nicht einmal mehr um. “Ach, legt euch hin, Schäflein und träumt süß heut’nacht…”, denkt Pit. Dennoch rufen Rosi und Pit noch einmal laut: “Dies ist kein Witz, die Welt wird vergehen, es ist so weit! Menschen!, die Zeit drängt!!!”


Anmerkungen

1. Pit Morell, “hoffnungsharfe”, in: Signale / Gedichte, Bechtle Lyrik Band 14, München 1967.
2. Bücher von oder über Pit Morell: Pit Morell, Signale / Gedichte, Bechtle Lyrik, Band 14, München 1967. Pit Morell, Kampen. Skizzen&Texte, Hamburg 1979. Jean Pierre Morell, Ein phantastischer Seher. Zeichnungen, Bathasar Avon Verlag, Worpswede 1981. Pit Morell, Worpswede, Oldenburg 1983. Pit Morell, Worpswede. Nachrichten aus dem Moor, Worpswede 1984.
3. Eine Aussage bei der ich denken muss an Chuang-Tse, einen Philosophen aus 300 v. Chr., worüber ich las bei John Gage. Schlussendlich ist alles gleich.
4. Und Bram van Velde, der auch in Worpswede gelebt hat (vergleiche Samuel Beckets Katalog von Van Velde, und Samuel Becket, Das Gleiche nochmal anders (STV 3114, 2002).
5. G.J. Leonard, Into the Light of Things. The Art of the Commonplace from Wordsworth to John Cage, Chicago etc. 1994, note 130, p. 238.
6. Aber es gilt m.E. überhaupt als Wesenscharakteristicum von ‘richtiger’ Religion: z.B. der Tod Christi, jung, scheinbar nutzlos gestorben; Liturgie, scheinbar nutzlos gefeiert, aber doch…
7. Aus “Pit Morell”, in: R. Lubricht, H. Jung, Kunstpreis des Landeskreises Osterholz 2008, 32f.
8. Pit Morell, Kampen. Skizzen & Texte, Hamburg 1979.
9. Pit Morell, Worpswede, Oldenburg 1983.
10. Ebd., 27f. Lil Picard: ‘Jetzt weiss ich es, Morell, Sie leben ja schon längst im underground!” Motto: “Die Phantasie ist ein klügerer Künstler als die Nachahmung”
11. Ebd., 104.
12. D. Ades, “Dada and Surrealism”, in: N. Stangos, Concepts of Modern Art, Penguin 1994, 110ff.
13. Die Neuvermählte, von ihrem Junggesellen entkleidet, sogar, 1915-1923; wiederhergestellt 1966.
14. Siehe André Breton, “Le manifeste du surréalisme, 1924”, in: Harrison & Wood, Art in Theory, 432ff.
15. P. Springer, Hg., Pit Morell – Worpswede, Oldenburg 1983.
16. Ebd., namentlich 27f.
17. W. Benjamin, “Über den Begriff der Geschichte”, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd 1-2, STW 1991; G. Agamben, Die Zeit, die bleibt, 88ff, SV 2453